Wie verändert die Corona-Pandemie den Umgang mit Heterogenität?

Was die aktuelle Lage für mich und für andere bedeutet

Die Hilfsbereitschaft und Solidarität, die sich momentan in vielen Bereichen des Lebens zeigen, sind beeindruckend und wertvoll. Es ist sehr schön, das mitzuerleben und daran teilzuhaben. In vielen Städten organisieren sich Menschen und unterstützen bei Einkäufen und der Versorgung mit Medikamenten. Mir ist jedoch im Laufe der vergangenen Wochen eine Veränderung aufgefallen: In dem Moment, in dem seitens der Bundes- oder Landesregierung zur Solidarität aufgefordert wurde, bekam diese Bewegung eine extrinsische Motivation, die ihr vielleicht nicht gut tat. Denn es wurde der Appell deutlich, auf zivilgesellschaftlicher Ebene Missstände auszugleichen, die auf politische Entscheidungen zurückzuführen sind. Soziale Ungleichheiten sind aktuell noch deutlicher sichtbar als zuvor, besonders in ihrer intersektionalen Struktur. Menschen, die in systemrelevanten Berufen unter häufig prekären Bedingungen arbeiten, werden ungefragt zu „Alltagshelden“ ernannt, was aus mehreren Gründen schwierig ist. Dass es sich überwiegend um Frauen, also „Alltagsheldinnen“ handelt, ist nur einer der Gründe. Dass durch diese Form der Heroisierung sozial ungerechte Strukturen mit Applaus übertönt werden, ein anderer.

Ich habe mich selten so privilegiert gefühlt wie momentan. Mir wurde noch nie auf der Straße „Corona!“ nachgerufen, weil mir keine chinesische Herkunft zugeschrieben wird. Mir fällt auch nach Wochen in der Wohnung nicht die Decke auf den Kopf, weil ich viel Platz habe. Ich muss mich keinem gesundheitlichen Risiko bei der Arbeit und auf dem Arbeitsweg aussetzen, weil ich in meiner Wohnung arbeiten kann. Auch Existenzängste habe ich nicht, weil mein Arbeitsplatz nicht direkt von den wirtschaftlichen Folgen der Beschränkungen bedroht ist. Mein Aufenthaltsstatus ist nicht gefährdet, weil ich in dem Land geboren wurde, in dem ich lebe. Ich kann gut arbeiten und habe Freizeit, weil ich mich nicht um die Betreuung von Angehörigen kümmern oder sorgen muss. Ich bin nicht auf Assistenz im Alltag angewiesen und muss mich auch darum nicht sorgen. Diese Beispiele lassen sich sicher noch ergänzen, können aber verdeutlichen, wie unterschiedlich die Bedeutung der aktuellen Lage für Menschen in verschiedenen Lebenssituationen ist und welche Relevanz Privilegien in Krisensituationen aufweisen können. Die Krisenlage macht Heterogenität im Zusammenhang mit Privilegien und Benachteiligungen sichtbar, darin könnte eine Chance für langfristige Veränderungen liegen.

Wird Inklusion zum Luxusthema?

Aus einem „Gemeinsam schaffen wir das!“ entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, die Gesellschaft rückt zusammen und stemmt als große Gruppe die Herausforderung der Pandemie – so zumindest die medial kommunizierte Hoffnung auf Solidarität. Allerdings stellt sich diese Gemeinschaft trotz der für alle neuen Pandemiesituation als in sich sehr vielfältig dar. Es gibt sogar eine neue binäre Gesellschaftsordnung: Die Risikogruppe steht der Nicht-Risikogruppe gegenüber. Die Risikogruppe, als zahlenmäßige Minderheit wahrgenommen, hat ein weiteres Problem: Zur Risikogruppe zählen bereits marginalisierte Gruppen wie alte Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen mit chronischen Erkrankungen. Menschen, die oftmals bereits Infragestellungen sowie Entwertungen ihrer Leben erfahren haben, werden aktuell zu einem Verhandlungsgegenstand. Eine sog. „Herdenimmunität“, die für Angehörige der Risikogruppe besonders lebensgefährlich ist, wurde kurz diskutiert. Die Frage nach Zwangsquarantäne für Personen aus der Risikogruppe wurde gestellt, um die Freiheiten der anderen zu wahren. Die gesetzlichen Einschränkungen, die alle Menschen betreffen, dabei aber unterschiedliche Herausforderungen mit sich bringen, werden Schritt für Schritt aufgehoben. Den Maßstab für diese Entscheidungen bilden die Kapazitäten des Gesundheitssystems. Für Menschen, die zur Risikogruppe gehören, ergeben sich dadurch formal mehr rechtliche Freiheiten. Faktisch werden sie diese aufgrund des nach wie vor hohen Risikos eines schweren Krankheitsverlaufs im Falle einer Ansteckung kaum wahrnehmen können. Inklusion ist zentrales Thema, auch wenn es nicht so benannt wird. Es geht von Anfang an um den Umgang einer Gesellschaft mit der Verschiedenheit ihrer Mitglieder. Wie sich dieser Umgang entwickelt, kann entscheidend dafür sein, ob die „Corona-Krise“ auch zu einer Inklusionskrise wird.

An einem aktuellen Beispiel lässt sich die Relevanz der Krisensituation für den Umgang mit Verschiedenheit skizzieren. Zum IDAHOBIT 2020 (Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter*- und Trans*feindlichkeit) wurde am 17. Mai auf dem Bochumer Rathaus wie seit vielen Jahren an dem Tag die Regenbogenflagge gehisst. Die Stadt drückt damit ihre Unterstützung und Solidarität gegenüber Menschen aus, die aufgrund ihrer sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität Diskriminierungen und Anfeindungen erfahren. Eigentlich war dieses Jahr alles so wie in den Jahren zuvor. Allerdings gab es auf Social-Media-Kanälen neben vielen positiven Rückmeldungen eine besondere Form der Kritik an dieser Aktion. Als „unmöglich“ wurde die Aktion bewertet, was damit begründet wurde, dass es wegen der Corona-Pandemie zurzeit wichtigere Aufgaben für die Politik gebe. Kindertagesstätten seien immer noch geschlossen und Eltern daher überfordert. Die Überforderung von Eltern ist real, darum geht es mir nicht. Aber was verrät dieser Einwand über die Wahrnehmung der Anliegen anderer, die scheinbar als Nicht-Eltern wahrgenommen werden? Der Einsatz für diskriminierte Minderheiten erscheint als Aufgabe von geringer Priorität, die erst dann wahrzunehmen ist, wenn die großen Probleme gelöst sind, die sich durch die Corona-Pandemie für viele Menschen ergeben. Engagement für Minderheiten als Luxusproblem? Kann sich in einer Krise Whataboutism[1] als Diskussionskultur etablieren? Diskussionen würden unter einer Hierarchisierung leiden, die Anliegen in einer Diskussionsunkultur einer Strategie untergeordnet werden, die nicht an einer inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert ist. Worum es geht, wird nebensächlich. Wie würde sich eine solche Entwicklung auf Anliegen inklusiver (Religions-)Pädagogik auswirken? So langsam läuft der Unterricht in der Schule wieder an und es lässt sich bereits jetzt erahnen, welche Kinder von dem Unterricht, so wie er momentan vor Ort stattfinden muss, eher nicht profitieren.

Machen Krisen Unterschiede?

Dieser Frage lässt sich an einem weiteren Beispiel nachgehen, in dem Verschiedenheit von Menschen unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zur Geltung kommt. Im Kreis Coesfeld verzögerten sich die Lockerungen der Einschränkungen im gesellschaftlichen Leben, weil kurz vor der geplanten Umsetzung der Lockerungen dort die Zahl der Neuinfektionen über dem festgelegten Grenzwert lag. In Teilen der Bevölkerung ist eine Wut auf den Schlachtbetrieb erkennbar, in dem sich eine Infektionskette gebildet hat. An der hohen Zahl an Neuinfektionen in diesem und auch weiteren Betrieben werden prekäre Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie deutlich sichtbar. Diese waren auch vorher schon bekannt. Was aktuell anders ist: Die Arbeits- und auch Lebensbedingungen der Arbeiter_innen in den Betrieben erhalten eine Relevanz für die, die dort nicht arbeiten, da die Konsequenzen ihre eigenen Freiheiten einschränken. Die Arbeitsbedingungen der anderen werden dann zum Thema, wenn sie eigene Freiheiten betreffen. Ist es vermessen zu fragen, was eine solche Reaktion über die Wahrnehmung von Menschen aussagt, die nicht zur eigenen Gruppe gezählt werden? Sind deren Arbeitsbedingungen hinnehmbar, wenn sie das Eigene nicht tangieren? Sind sie womöglich zumutbar, weil es ja die Anderen sind, für die scheinbar andere Regeln gelten? Werden die Anderen und ihre Lebensumstände im Alltag ohne Krise selten wahrgenommen, weil es kaum oder keine Berührungspunkte gibt?

Wie soll in Zukunft mit dem Eigenen und dem Anderen umgegangen werden? Was lässt sich aus dieser Ausnahmesituation lernen? Wie können zukünftige Generationen besser mit ähnlichen Krisen umgehen? Für den Religionsunterricht fallen mir einige Impulse ein. Kontextbewusstes und kritisch-selbstreflexives ethisches Lernen kann in Verbindung mit Antidiskriminierungsarbeit die intersektionale Perspektive schärfen. Wird ethisches Lernen heterogenitätsbewusst und -sensibel gestaltet, wird an der Vielfalt an Lebenssituationen von Menschen angesetzt. Die politische Dimension und Verantwortung religiöser Bildung zeigen sich aktuell in all ihrer Relevanz darin, wie Menschen miteinander umgehen. Wie Menschen zukünftig miteinander umgehen sollen, das ist zugleich Frage und Aufgabe inklusiver Religionspädagogik der Vielfalt, die sich aus der Beobachtung der aktuellen Lage ergeben.

[1] Siehe dazu z. B. einen anschaulichen Kommentar im Deutschlandfunk Kultur: Enno Park: „Und was ist mit…?“ Perfider Trick aus der Mottenkiste der Rhetorik (https://www.deutschlandfunkkultur.de/und-was-ist-mit-perfider-trick-aus-der-mottenkiste-der.1005.de.html?dram:article_id=384660, zuletzt überprüft am 19.05.2020).

Ein Beitrag von Vera Uppenkamp.

Vera Uppenkamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion an der Universität Paderborn und Mitglied der Redaktion von inrev.de.

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