Gehört Antisemitismuskritik zu Inklusion?

Stelle dir vor, jemand ruft dir auf dem Schulhof „Du Christ, du Opfer!“ hinterher, weil du eine Kreuz-Kette trägst. Stell dir vor, dein Mitschüler sagt: „Ich find dich eigentlich voll nett, aber du bist halt Christ und deswegen kann ich nicht mit dir chillen.“ Stell dir vor, der Weihnachtsgottesdienst könnte nur unter Polizeischutz durchgeführt werden.

Für jüdische Menschen ist das Alltag.

Settings, in denen sich Szenen wie diese abspielen, sind nicht an bestimmte gesellschaftliche Schichten gebunden, nicht auf konkrete Regionen beschränkt, sondern sie ereignen sich nahezu überall – in der direkten Begegnung ebenso wie in Sozialen Medien. Sie sind in der Berufswelt, dem Freizeitbereich und dem Bildungskontext anzutreffen, aber nicht für alle gleich sichtbar. Was für die Einen einen Angriff ihrer persönlichen Identität bedeutet, ist für die Anderen mitunter nicht mehr als ein Spaß, vielleicht eine unreflektierte Floskel – oder eine bewusste Trennung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ im Sinne eines (religiösen) Othering:

Mitschüler: „Eigentlich mögen sich Juden und Muslime nicht.“ Dvora: „Wieso? Ich mag Muslime eigentlich.“ (Bernstein, 107)

Alice erzählt von Erlebnissen ihrer Tochter in der Schule, nachdem sievon der jüdischen Schule aufs Gymnasium gewechselt hatte und daran erinnert wurde, dass sie Jüdin ist:

„Auf der Schulwand waren Hakenkreuze und äh Davidsterne und äh halt so die„üblichen Sachen“, „Saujude“ und so. Das stand also da. […] So wie meine Tochter die nachHause kommt an Esstisch setzt und weint und sagt: »Mama, wieso immer WIR?«“ […]Sie macht deutlich, wie es auf sie und ihre Tochter nachträglich gewirkt hat: „Also ichwar wirklich bis in mein Innerstes getroffen, weil plötzlich hat man mir klar gemacht – durchdiese EINZELNE Tat hat man mir klargemacht: »Ey, du gehörst nicht dazu. […]. Du bistkeine Deutsche, du bist JÜDIN.«“ (JuPe Bericht, 65)

Diskriminierungen von jüdischen Mitmenschen sind weit verbreitet und komplex. Mal sind sie naiv, mal unterschwellig wertend und immer häufiger auch ganz explizit. Laut Julia Bernstein ist das Schimpfwort „Jude“ weit verbreitet. „Jude wird als Synonym verwendet für Verrat, Geiz, Aggressivität, die Verkörperung des Bösen.“ Dabei bewegt sich Antisemitismus insbesondere im Bildungskontext zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Angriff und Spaß.

Unsichtbares sichtbar zu machen und Perspektivwechsel anzuregen gehört zu den wesentlichen Aufgaben der Bildungsarbeit und demzufolge auch zur Religionspädagogik. Wie die gesamte Gesellschaft ist auch sie nach Hendrik Cremer dem Schutz der Menschenwürde und dem Diskriminierungsverbot verpflichtet sowie dazu aufgefordert, situationsbedingt zu intervenieren und Raum zur Auseinandersetzung zu schaffen (vgl. Cremer, 22).

Die Auseinandersetzung mit Diskriminierungsmechanismen und Differenzen bilden die Basis des Konzepts einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt. Es ist ein

„Konzept religiösen Lernens, das soziale, religiöse, geschlechtsbezogene und auf das Thema Ability/Disability bezogene Heterogenität, die daraus sich ergebenden Gemeinsamkeiten und Differenzen als bedeutsam für Voraussetzungen, Strukturen, Arbeitsformen und Themen von religiösen Bildungsprozessen erachtet, das diese Differenzen und Gemeinsamkeiten reflektiert und in die Gestaltung von Bildungsprozessen mit dem Ziel einbezieht, über dialogische Formen des Lernens in heterogenen Settings eine ‚egalitäre Differenz‘ (Prengel 1993) zu realisieren, die ihre gesellschaftliche Gestalt in einem demokratischen Umgang mit religiöser, kultureller, sozialer und geschlechtsbezogener Vielfalt besitzt.“ (Knauth, 53)

Im Sinne dieses Konzepts darf der (religionspädagogische) Diskurs um Antisemitismus nicht unabhängig und abgelöst vom Inklusionsdiskurs betrachtet werden. Vielmehr müssen beide Diskurse stärker miteinander in Beziehung treten.

Denn „Antisemiten kannst du aus dem Weg gehen, aber nicht den Strukturen. Gerade im Bildungskontext.“ (Lehrkraft) (Bernstein, 177)

Ein Beitrag von Stephanie Lemke und Janine Wolf.

Foto von Stephanie Lerke

Stephanie Lerke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Religionspädagogik an der TU Dortmund und beschäftigt sich mit Theologisieren mit Kunst und antisemitismuskritischer Religionspädagogik

Foto von Janine Wolf

Janine Wolf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Religionspädagogik an der Universität Duisburg-Essen und beschäftigt sich mit Inklusiver Religionspädagogik der Vielfalt.

Literatur:

Bernstein, Julia, Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen, Weinheim-Basel 2020.

Cremer, Hendrik, Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen und Parteien?, Berlin 2019.

Knauth, Thorsten, Inklusive Religionspädagogik. Grundlagen und Perspektiven, in: Nord, Ilona (Hg.), Inklusion im Studium Evangelische Theologie. Grundlagen und Perspektiven mit einem Schwerpunkt im Bereich Sinnesbehinderungen, Leipzig 2015, 49–68.

Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen [1993] 1995.

Zick, Andreas; Hövermann, Andreas; Jensen, Silke; Bernstein, Julia, Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus, Bielefeld 2017.

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