Essentiell?

Ein Erfahrungsbericht von Nele Spiering-Schomborg

Ich erinnere mich noch an eine Situation, die ich zu Beginn meiner Promotion erlebt habe. Ich unternahm zu diesem Zeitpunkt gerade erste Versuche, mich in den Themenkomplex Geschlecht einzuarbeiten. Ich bin als Novizin ins Feld gegangen. Eine spezifische Haltung hatte ich nicht und wenn, war sie allenfalls von Skepsis getragen. Ich habe also einen pädagogischen Text zur Geschlechterforschung gelesen – und empfand erst einmal Irritation, vielleicht sogar Empörung. Geschlecht, so mein Eindruck von dem Artikel, war hier kein deutungsoffenes Konzept – und ich weiß heute, dass mein Verständnis von Deutungsoffenheit damals stark heteronormativ und wenig queer (insgesamt wohl recht naiv) funktioniert hat. Aber zurück zum Text: Geschlecht kam hier als ein alternativer Begriff für Mädchen und Frauen daher; Jungen standen auf jeden Fall nicht im Mittelpunkt und das hat mich gestört: Um mir die Worte der Soziologin Carol Hagemann-White (2002) in den Mund zu legen: Ich habe „ein Primat der Aufmerksamkeit für das weibliche Geschlecht (S. 143)“ entlarvt. Ja, entlarvt, das ist dramatisch formuliert, weil ich damals tatsächlich annahm, einen eklatanten Fehler entdeckt zu haben. Mädchen in ihren spezifischen Ambivalenzen sind der Motor, um „in der Analyse nach Geschlecht zu differenzieren (Ebd.)“. Wo sind die Jungen, warum steht da Gender, wenn eigentlich Mädchen im Fokus stehen? Ist das nicht unfair?

Wo sind die Perspektiven von Jungen und Männern? Das haben mich im vergangenen Semester nun auch Studierende meiner Lehrveranstaltung zum Themenkomplex sexualisierte Gewalt gefragt. Sie fehlten einigen ganz offensichtlich. Habe ich das Primat etwa reproduziert, nur einseitig hingehört und dann dieses Echo weitergetragen? Die Rückmeldung der Studierenden hat mich verunsichert – ich habe die Skripte noch einmal durchgesehen, gezielt „männliche“  Stimmen aufgespürt. Ich habe sie gefunden! Warum aber musste ich überhaupt nach ihnen suchen? Ich könnte antworten: Dekonstruktion, strukturelle Ungleichheit, Third Wave Feminismus – hinzukommen auch viele Zahlen und schließlich Personen wie Donald Trump:  In einem FR-Artikel  von Harry Nutt (2017) lese ich:

Ein hässlicher, ungehobelter Rüpel, der Gewalt gegen Frauen als legitim erachtet, ist an der Macht [gemeint ist Donald Trump], gewählt von Leuten, die ähnlich denken wie er. Die große Solidarisierung, die sich unter dem Hashtag #MeToo versammelt, wäre demnach das symbolische Eingeständnis einer Niederlage. […] Was als lauter Aufschrei einer längst überfälligen Gegenwehr gegen sexualisierte Gewalt im Alltag daherkommt, offenbarte letztlich nur die Hilflosigkeit gegenüber einem sich manifestierenden gesellschaftlichen Wandel, der die Errungenschaften des offenen und demokratischen Rechtsstaats aushöhlt.

Die Hilflosigkeit, die hier beschrieben wird, finde ich nachvollziehbar und nehme sie ernst, z.B. im Blick auf die Themen und Inhalte, die in meinen Lehrveranstaltungen zur Geltung kommen.

Anders als zu Beginn meiner Forschungstätigkeit bezeichne ich mich heute als (intersektionale) Feministin. Meine Haltung hat sich irgendwann geändert und damit auch mein Fokus inklusive Tiefenschärfen. Und das in einem Setting mit Fallhöhen, die manchmal verwirrend sind. „Denn wen die feministische Bezugsgruppe umfasst und wen sie ausschließt, das verstand sich nie von selbst und war immer umkämpft (Kerner 2007, S. 5, Herv. d. Verf.).“ Das Paradox, das viele wahrnehmen, die sich mit Geschlechterfragen beschäftigen, kannte ich lange nur aus der Distanz – nämlich: Wie kann ich Geschlecht einerseits den essentialistischen Boden entziehen und soziale Herstellungsprozesse betonen, andererseits aber das Amt als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte übernehmen? Mainstream-Geschlechter- bzw. Gleichstellungspolitik und kategoriale Destabilisierungen erscheinen nicht wirklich kompatibel.

Denn herkömmliche Frauenpolitik gründet in der Bezugnahme auf eine qua Sex und meist auch qua Gender eindeutig definierte Gruppe von Frauen. Damit affirmiert sie die Geschlechterkategorie „Frauen“ – und nimmt die Gefahr in Kauf, sie zu homogenisieren oder sogar zu essentialisieren. Auf kategoriale Destabilisierungen zielende Geschlechterpolitik hingegen trachtet klare Geschlechterkategorisierungen durch unterschiedliche Irritationsstrategien gerade zu veruneindeutigen und kann deren Affirmation – mit welcher Absicht auch immer – daher keinesfalls uneingeschränkt gutheißen (Kerner 2007, S. 13).

Mit meinem neuen Forschungsprojekt haben sich einige Prioritäten verschoben. Die neuen Diskursräume, in denen ich mich aktuell bewege, suchen deutlich offensiver den Zugang zu gesellschaftlichen Realitäten. Radikal dekonstruktivistische Lesarten bilden hier eher die Ausnahme, Geschlechterkonzepte werden stärker essentialisiert. Das ist ein schwieriges Terrain, das ich lange bewusst gemieden habe und teils auch jetzt noch nicht betrete. Aber: Strukturelle und personale Gewalt sind nicht weiter und in erster Linie Elemente der Diegese (erzählte Welt), sondern plötzlich in unmittelbarere Nähe gerückt – da sind messbare Daten, Erfahrungsberichte, Bilder und Social Media. #Ausnahmslos, #MeToo, die MHG-Studie, der Fall Lüdge u.v.m.: In einem Prozess wechselnder Reflexionsmodi und Diskurse, ja vielleicht sogar Blasen durchquere ich mein Forschungsfeld mit derartigen Zugängen im Hinter- und manchmal auch Vordergrund.

Nun gibt es eine Art Mittelweg bzw. -wege: Issue-Politics funktionieren sach- und themenbezogen. Die Prävention sexualisierter Gewalt wird dann gerade nicht exklusiv frauen- oder männerpolitisch betrieben, sondern gesamtgesellschaftlich fokussiert. Auf der Suche nach Beispielen, wie Issue-Politik in Bezug auf die Prävention sexualisierter Gewalt konkret aussehen kann, bleibe ich allerdings etwas ratlos zurück. Geeigneter erscheint mir da schon ein strategischer Essentialismus: Gayatri Spivak hat diesen Begriff geprägt und meint damit den strategischen, vorsichtigen Einsatz von problematischen Kategorien wie z.B. Geschlecht. Dabei ist der Zugang  „von ständiger Wachsamkeit bezüglich potentieller Ausschließungen und Fehlrepräsentationen geleitet (Ebd., S. 14)“. Selbstreflexion und Selbstkritik sind maßgebend. Ein Feminismus, der sich am strategischen Essentialismus orientiert, kann also weiterhin frauenpolitisch argumentieren – jedoch mit dem Bewusstsein, dass es sich „um alles andere als eine saubere Lösung handelt (Ebd., Herv. d. Verf.).“ Ich habe diese „unsaubere Lösung“ nun als ständige Begleiterin bei mir. Und während sie sich in den vergangenen Lehrveranstaltungen eher unauffällig verhalten hat, ist sie auf einmal stärker in den Vordergrund getreten. Vielleicht, weil ich den strategischen Essentialismus zu strategisch und zu essentialistisch eingesetzt habe.

Wie eindimensional oder auch enggestrickt darf die gesellschaftliche Auseinandersetzung rund um sexualisierte Gewalt angesichts von Geschlechterfragen eigentlich sein? Also wie unqueer?[1] Ich muss damit rechnen, dass an jeder meiner Lehrveranstaltungen direkt oder indirekt Betroffene sexualisierter Gewalt teilnehmen könnten. Und diese Verantwortung ist spürbar. Ich möchte nicht, dass Studierende speziell diesen Kurs mit dem Gefühl beenden, ihre Stimme sei überhört worden oder eine Gruppe unterrepräsentiert. Zur Erinnerung: Es geht hier um ein pädagogisch-didaktisches Seminar zur Prävention sexualisierter Gewalt. Ich will niemandem auf die Füße treten und erst recht nicht ins Herz. Gleichzeitig können strukturelle Gewaltverhältnisse – die im Blick auf sexualisierte Gewalt unbedingt mitzudenken sind – nicht durch ein schützendes Pflaster, geheilt werden. Diese Wunde muss offen liegen.

Literatur

Hagemann-White, Carol (2002): Geschlechtertheoretische Ansätze. In: Krüger, Heinz-Hermann; Grunert Cathleen (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 143-165.

Kerner, Ina (2007): Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Perspektiven für einen neuen Feminismus. In: Gender Politik Online. URL: https://www.fuberlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/KernerKonstruktion_und_Dekonstruktion/kerner.pdf, abgerufen am 11.03.2020.

Nutt, Harry (2017): #METOO. Die gespaltene feministische Bewegung. URL: https://www.fr.de/politik/gespaltene-feministische-bewegung-11014032.html, abgerufen am 11.03.2020.

[1] Mir ist durchaus bewusst, dass wir immer irgendwie exkludieren, im Alltag und auch in der wissenschaftlichen Arbeit. So werden z.B. Perspektiven zu Disability und sexualisierte Gewalt fachdidaktisch noch immer vernachlässigt – wobei sexualisierte Gewalt insgesamt wenig fachdidaktisch ausbuchstabiert wird.

Nele Spiering-Schomborg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im PRONET-Projekt 34 zur Darstellung sexualisierter Gewalt in Bibel und Religionsunterricht an der Universität Kassel, Institut für Katholische Theologie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert