Impressionen aus dem inrev-Talk zum Thema „Fremdheit“

Im inrev-Talk am 13.02.24 ging es um „Fremdheit“. Die Idee des inrev-Talks: Ein kurzer thematischer Impuls als Einstieg in ein lebendiges Gespräch, bei dem professions- und handlungsfeldübergreifend diskutiert und überlegt werden kann. Rebecca Grantz stellte sich der Herausforderung, in maximal fünf Minuten in das Thema „Fremdheit“ einzuführen und das Gespräch durch Denkimpulse zu eröffnen.

Einen anschaulichen Zugang zur Thematik lieferte der Impuls von Rebecca Grantz, in dem die Konstruktion von Fremdheit am Beispiel des Jugendbuchs „Jeden Tag Spaghetti“ von Lucia Zamolo den Einstieg in die Auseinandersetzung mit Othering anbot. Wie kann man auf die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ antworten? Und muss man das überhaupt? Ist die Frage erst dann angemessen beantwortet, wenn das Gegenüber mit der Antwort zufrieden ist und nicht weiter nachfragt? Anhand dieser Frage, die sehr viel verrät über den Drang, gesellschaftliche Ordnung auch über die Zuschreibung von „fremd“ und „eigen“ herzustellen und aufrechtzuerhalten, konnte im Impuls deutlich gemacht werden, dass die Unübersichtlichkeit komplexer Wirklichkeit Auswirkungen auf das alltägliche Leben hat. Das Eigene kann im Umgang mit Komplexität zum Ort der Eindeutigkeit erklärt werden bzw. als solcher funktionieren. Das Fremde wird dann mitunter als Irritation wahrgenommen, die erklärt werden muss.

Dieser Einblick in Fremdheit als Un/Ordnungskategorie sorgte für eine lebhafte Diskussion, die in unterschiedliche Richtungen geführt wurde, die im Folgenden vorgestellt werden.

Fremdheit als eigenes Erleben

Die meisten Menschen kennen das, sich irgendwo fremd zu fühlen. Manchen Menschen wird aber häufig dort Fremdsein zugeschrieben, wo sie sich gar nicht fremd fühlen. Der Druck, der damit verbunden ist, sich anderen gegenüber immer wieder erklären zu müssen, die einem Fremdsein zuschreiben, wurde in der Geschichte aus dem Jugendbuch deutlich. Die große Gruppe der „Eigenen“ verlangt von der kleinen Gruppe der „Fremden“ (oder besser gesagt: Befremdeten) eine schlüssige Erklärung. „Woher kommst du eigentlich?“ ist dabei häufig die Frage, die auf „Woher kommst du?“ folgt, wenn die erste Antwort für Fragende aus der Gruppe der „Eigenen“ nicht zufriedenstellend war, weil das Gegenüber der Antwort nach auch zur Gruppe der „Eigenen“ gehören würde und das, obwohl ihm doch Fremdheit zugeschrieben wird.

In der Diskussion kam schnell die Frage auf, was Fremdheit in dem Zusammenhang überhaupt ist. Ein sehr hilfreicher Gedanke dazu war, dass Fremdheit nicht etwas ist, das andere beschreibt, sondern sich vielmehr auf das eigene Erleben der Welt bezieht: Mir ist etwas fremd. Ich unterscheide zwischen Eigenem und Fremdem. Und ich nutze das Fremde, um mich davon abzugrenzen und das Eigene besser abzustecken. Ein spannender Gedanke ist der, dass Eigenes und Fremdes auf einem Kontinuum gedacht werden können und vielleicht sogar ineinander verschränkt sind. Zudem lässt sich fragen, inwiefern man sich das Fremde zu eigen macht, wenn man es zur Identitätsbildung und dafür nutzt, sich selbst zu verorten.

Produktive Fremdheit?

Eine zentrale Frage in der Diskussion war die, wie am Beispiel der befremdeten Protagonistin in dem Jugendbuch produktive Prozesse im Umgang mit Befremdung aussehen können. Gibt es diese überhaupt? Und welchen Beigeschmack haben sie? Auf wessen Kosten wird (auch pädagogisch) Fremdheit produktiv nutzbar gemacht? Die Begegnung mit dem Fremden kann einen selbst bereichern, aber unter welchen Umständen ist das eine Bereicherung, die nicht auf Kosten der Befremdeten geschieht? Diskutiert wurde über Machtverhältnisse, Privilegien und den Unterschied, ob man als Profiteur*in einer Fremdheitsbegegnung eine*r von Vielen ist oder sich in einer marginalisierten Position befindet. Dabei wurde auch deutlich: Der Grundgedanke, dass alle irgendwie und irgendwo fremd sind, geht pauschal nicht auf. Hilfreich kann die Unterscheidung von individueller und kollektiver Fremdheit sein, die sich sowohl in Befremdungen als auch im Erleben von Fremdheit unterschiedlich darstellt.

Als markantes Beispiel für den Versuch der produktiven Befremdung im religionspädagogischen Kontext wurde der Rollentausch (z. B. im Rollenspiel) besprochen. Der im Vergleich zum Alltag wesentliche Unterschied liegt hier darin, dass Rollen eingenommen und dann auch wieder verlassen werden können. Diese Möglichkeiten sind außerhalb des Rollenspiels selten und dann auch nur einigen Menschen gegeben. Im Rollenspiel liegt zudem eine doppelte Fremdheitserfahrung: Das Einnehmen einer (fiktiven) Rolle ist die erste Erfahrung von Fremdheit und die zweite ist die, dass man dadurch nicht unmittelbar die Rolle erfährt, sondern eigene Interpretationen auf die Rolle projiziert. Dadurch erfährt auch die Rolle Fremdheit, da sie zum einen nie ganz zu eigen gemacht werden kann und zum anderen mitunter durch Interpretationen befremdet wird.

Fremdheit als relationaler Begriff

Was das Eigene ist und was dem gegenüber fremd ist, hängt stark davon ab, wo man ist, von wem man umgeben ist und welche Unterscheidungsmerkmale überhaupt wichtig sind. Dieser Grundgedanke wurde aufgegriffen und weitergedacht. Wie lässt sich z. B. Vielfalt darstellen, ohne Fremdheit zu überproduzieren? Mit jeder bewussten Inszenierung von Diversität z. B. in Schulbüchern werden immer auch Kategorien aufgegriffen und reifiziert, wird Fremdheit für die einen und Vertrautheit für die anderen konstruiert bzw. antizipiert. Und es lässt sich fragen, welche Fremdheitskonstruktionen legitim erscheinen und welche nicht. Wer entscheidet oder sollte entscheiden, was in dem Fall legitim ist? Welche Normen und Bewertungen liegen dem zugrunde?

In pädagogischen Kontexten wird der Begegnung mit dem Fremden große Bedeutung zugeschrieben. Allerdings ist Begegnung kein Garant dafür, dass Fremdes vertraut wird. Das muss auch nicht immer sein, war ein vorsichtiger Konsens im Gespräch. Noch grundsätzlicher lässt sich fragen, ob etwas, das mir fremd ist, durch Begegnung zu Eigenem werden kann oder ob es bleibend fremd ist, auch wenn ich z. B. durch Zuhören damit vertraut gemacht werde.

Fremdheit und Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt

Ein Ziel von Schule liegt darin, Fremdheit zur Welt abzubauen. Inwiefern kann Religionsunterricht dazu beitragen? Wie konstitutiv ist angesichts einer zunehmend geringen religiösen Sozialisation und der Trennung von Religionen und Konfession in der Organisation von Religionsunterricht das Eigene und das Fremde für dessen Gestaltung? Sorgt die meistens konfessionelle Trennung der Lerngruppe eher für kindliche Fremdheitserfahrungen oder liegt in ihr eventuell ein positiver Effekt im Sinne einer konfessionellen Gruppenidentität? Bietet religionskundlicher Unterricht einen eröffnenden Zugang zur Welt auf Basis von Fremdheit? Die Frage nach der Organisationsform von Religionsunterricht wurde ebenso diskutiert wie die Frage danach, wie Leitlinien für einen fremdheitssensiblen Religionsunterricht aussehen könnten. Dabei wurden vor allem Ambivalenzen deutlich. Die Aneignung des Fremden als didaktischem Grundprinzip in Schule steht dem Anspruch gegenüber, möglichst nicht zu befremden. Sich selbst irritieren lassen und Fremdheit selbstreflexiv zu verstehen steht in Spannung zur Frage, ob es überhaupt einen konstruktiven Moment für Befremdete geben kann. Wenn es den gibt, müsste der Mehrwert für Befremdete dann größer sein als der Nutzen der Irritation in der Begegnung mit Fremdheit? Einig waren sich alle Diskussionsteilnehmer*innen darin, dass im inklusiven Religionsunterricht das gemeinsame Nachdenken und Reflektieren über Fremdheit auch mit Kindern und Jugendlichen angestrebt werden kann. 

Angesprochene Literatur

Freuding, Janosch, Fremdheitserfahrungen und Othering. Ordnungen des »Eigenen« und »Fremden« in interreligiöser Bildung, Bielefeld 2022.

Könemann, Judith, Fremdheit, in: Knauth, Thorsten/Möller, Rainer/Pithan, Annebelle (Hg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen, Münster/New York 2020, 355-362.

Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt am Main 142021.

Reuter, Julia, Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002.

Zamolo, Lucia, Jeden Tag Spaghetti, Münster 2022.

Ausblick

Der nächste inrev-Talk findet am 09.04.2024 um 18:00 Uhr via Zoom statt. Das Thema wird „Sprachsensibler Religionsunterricht – Schüler*innen mit geringen Deutschkenntnissen“ sein und unsere Impulsgeberin ist Sabine Schroeder-Zobel. Sie sind noch nicht im Verteiler für die Zugangsdaten und möchten dabei sein? Dann registrieren Sie sich hier. Bei weiteren Fragen melden Sie sich bei Vera Uppenkamp.

Ein Blogbeitrag von Vera Uppenkamp.

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