Rezension: Waidelich/Anil, Weil Tiger keine Affen sind! Jeder ist begabt, talentiert und besonders auf seine eigene erstaunliche Art und Weise. Das Bilderbuch für Kinder.

Buchcover von Weil Tiger keine Affen sind

Das Kinderbuch ‚Weil Tiger keine Affen sind!: Jeder ist begabt, talentiert und besonders auf seine eigene erstaunliche Art und Weise‘ wurde von Stefan Waidelich geschrieben und von Nikhila Anil illustriert. Das 40-seitige Buch erschien im Juni 2022 im Lipixa Heros Verlag und erzählt die Geschichte von Samuel, dem Tiger, der von seinem Wesen schüchtern und zurückhaltend ist, da er sich seinen besonderen Talenten nicht bewusst ist, wie die anderen Tiere.

Bereits im Alter von zwei Jahren beginnen Kinder spezifische Unterschiede wahrzunehmen und bereits mit zweieinhalb Jahren lernen sie, dass mit solchen Unterschieden auch Hierarchien eingehergehen (vgl. Boldaz-Hahn 2022). Der Vergleich untereinander bleibt somit nicht aus. Gleichzeitig sind Kinder in diesem Alter besonders stolz, wenn sie eine neue Fähigkeit entdeckt haben und davon ihren Freunden und Familienangehörigen erzählen oder diese sogar zeigen können. Das Buch von Waidelich und Anil handelt davon, dass der Tiger Samuel gemeinsam mit seinem Klassenverband, bestehend aus Eric, dem Elefanten, Sophie, dem Affen, Fred, dem Fisch, Rocky, dem Hund, Finki, dem Vogel und Berta, dem Huhn, von Frau Nilpferd, der Lehrperson Aufgaben gestellt bekommt, für deren Bewältigung die Tiere unterschiedlich gut veranlagt sind. Die Geschichte beginnt damit, dass den Tieren in der ersten Aufgabe gesagt wird, auf einen hohen Baum zu klettern und sich am Schwanz von einem Ast herunterhängen zu lassen. Alle Tiere bis auf Sophie (der Affe) scheitern mehr oder weniger kläglich an der Aufgabe. Samuel macht sogar eine besonders schlechte Figur bei der Übung und die anderen Tiere lachen ihn aus.

In dem anschließenden Auswertungsgespräch mit der Lehrkraft wird sich Tiger Samuel seiner Schwächen bewusst, was sich bei ihm in Magenschmerzen und Niedergeschlagenheit ausdrückt.

Die Geschichte erinnert damit stark an die Karikatur zur Chancengleichheit von Hans Johann Georg Traxler. Auf der Karikatur sind verschiedene Tiere zu sehen, unter anderem ein Affe, ein Elefant und eine Robbe. Diese stehen in einer Reihe einer männlichen Person gegenüber, die zu den Tieren sagt: „Zum Ziel einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!“ Vordergründig erscheint die Aufgabe zunächst sinnvoll, wird doch an alle Tiere die gleiche Anforderung gestellt. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch schnell klar, dass sich die scheinbare Gleichberechtigung als eine Diskriminierung entpuppt. Die von der Lehrkraft gestellte Aufgabe kann aufgrund der verschiedenen körperlichen Voraussetzungen von den einzelnen Tieren unterschiedlich gut, bzw. gar nicht erfüllt werden. Betrachtet man nun das Ziel der Bildungseinrichtung, den besten Kletterer zu finden, so wäre dies eine adäquate Aufgabenstellung für eine Auslese. Mit der Karikatur verweist Traxler darauf, dass Bildungsaspirant:innen jeweils individuelle Möglichkeiten und Chancen haben, um Aufgaben, die ihnen in Bildungseinrichtungen gestellt werden, zu erfüllen. Chancengleichheiten können im Bildungssektor deshalb nicht dadurch erreicht werden, indem Lernstandards und Aufgaben vereinheitlicht werden. Mache Diskriminierungs- bzw. Privilegierungsstrukturen werden dadurch bisweilen manifest, indem Schüler:innen nur einseitig wahrgenommen werden.  

Die Geschichte vom Tiger Samuel findet seine Fortsetzung darin, dass die Tiere vor weitere Aufgaben gestellt werden und Samuel zunehmend durch die eigene Unfähigkeit in der Schule Frustrationen erlebt. Mit seinen Eltern bespricht Samuel die Geschehnisse aus der Schule. Gleichwohl er voller Bewunderung die Talente seiner Mitschüler:innen preist, wird er sich seiner eigenen Schwäche bewusst. Von seinen Eltern bekommt Tiger Samuel zwar gesagt, dass er etwas Besonderes sei und er sich nicht mit den Fähigkeiten eines Affen vergleichen solle, doch Samuel geht dennoch mit einem negativen Gefühl ins Bett.

Der nächste Schultag beginnt mit einem großen Feuer, das unter allen Tieren eine große Panik verursacht. Während die Tiere fliehen oder in einer Schockstarre verharren, bleibt Samuel gelassen und ruft die Tiere zusammen, um einen Plan zu entwerfen. Indem er die unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten zusammenbringt, gelingt es Samuel, den Brand unter Kontrolle zu bringen und den Tieren die Möglichkeit zu geben, sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen.

Mithilfe der Fähigkeit des Elefanten, mit seinem Rüssel Wasser aus dem See auf das Feuer zu spritzen, der Fähigkeit des Fisches zu schwimmen und die Tiere entlang des Flusses vor dem Feuer zu warnen und den Eigenschaften der anderen Tiere weitere Landtiere in Sicherheit zu bringen, koordiniert Samuel das Geschehen. Samuel kann aufgrund seiner ruhigen Persönlichkeit und lauten Stimme für die notwendige Ordnung unter den aufgebrachten Tieren sorgen und diese in Sicherheit bringen. Am nächsten Tag evaluieren die Tiere die Geschehnisse des Vortages und loben die Fähigkeiten, die die einzelnen Tiere in der Situation unter Beweis gestellt haben. Insbesondere Samuels Talente wurden hervorgehoben und es tat Samuel gut, für seine Talente Anerkennung zu erhalten.

Die bereits angesprochene Karikatur Traxlers, die Waidelich offensichtlich zu der Geschichte inspirierte, lässt sich durch die Geschichte auch auf die Erfahrungen von Kindern in Bildungseinrichtungen übertragen. Die besondere Stärke des Buches setzt an der Wahrnehmung der Kinder an und trägt damit zu einem wichtigen Schritt in der Bewusstseinswerdung bei, indem Kindern in ihrer Sprache und Bildern Reflexionsmöglichkeiten über verschiedene Fähigkeiten eröffnet werden.

Mit Blick auf Ungleichheiten, denen Schüler:innen in Grundschulen und Kindergärten begegnen können, gilt es, das Kinderbuch in den Unterricht einzubauen und zu reflektieren. Insbesondere in Settings religiöser Bildung werden Fragen der Anerkennung von Unterschieden im Sinne von Pluralität zunehmend behandelt, indem es im Blick auf den „Unterricht nicht um Eingruppierung oder gar Beurteilung von Kindern und Jugendlichen geht, sondern um angemessenes Verstehen derer, an denen jeder Lernprozess anknüpfen muss und auf deren Entwicklung bzw. Förderung er zielt“ (Schröder 2022, S. 21). In diesem Sinne lässt sich die Geschichte vom Tiger Samuel auch dazu nutzen, um über Diskriminierung zu sprechen, weshalb insbesondere für eine religions- und kultursensible Bildung das Kinderbuch einen besonderen Wert hat. Aus der Sozial- und Lernpsychologie wissen wir, dass Maßnahmen zur Überwindung von Ungleichheit und Vorurteilsbildung insbesondere dann erfolgreich sind, wenn sie am jeweiligen Entwicklungsstand der Adressat:innen anknüpfen (vgl. Heinemann 2012, S. 137), weshalb eine didaktische Reflexion mit Lerngruppe und -material bereits im Kindergarten und der Grundschule besondere Relevanz hat. Effizient wird bei der vorurteilsfreien Erziehung der direkte Kontakt mit anderen Gruppen (Wright et al. 1997), aber auch der indirekt vermittelte Kontakt, beispielsweise durch Geschichten und Bilderbücher zugesprochen (Cameron & Rutland, 2006). Der religiösen Bildung kommt somit einer besonderen Verantwortung zuteil, da bspw. antisemitische Einstellungen sämtliche Alters- und Gesellschaftsschichten durchlaufen und als Querschnittsaufgabe für alle Altersstufen beschrieben werden muss (vgl. Naurath 2020, S. 13).

Das Buch soll Kinder in der Altersstufe vier bis sieben dazu ermutigen, die eigenen wahren Stärken zu entdecken und zu lernen, sich nicht mit anderen zu vergleichen. Es eignet sich dazu, Kindern der Elementar- und Grundstufe zu vermitteln, dass jeder etwas Besonderes ist und die Erfahrung des Andersseins positiv zu besetzen. Jede:r besitzt eine einzigartige Begabung, die in entsprechenden Situationen gebraucht wird. Kinder werden außerdem durch das Buch dazu ermutigt, in Teams zu denken und gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Gegenseitige Vergleiche können für das eigene Wohlbefinden hinderlich wirken. Insbesondere Kinder im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule haben bereits die Erfahrung, unter den Lern- und Leistungsdruck Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln. Da Kinder unterschiedliche Begabungen haben, ist es die Aufgabe der Lehrkraft, sie in allen Bereichen zu fordern und zu fördern und die einzelnen Stärken und Schwächen in Reflexion mit ihren Identitätsmerkmalen wahrzunehmen und anzuerkennen. Gerade weil Wahrnehmung kein passives Geschehen ist, sondern vielmehr aktiv beeinflusst werden kann (vgl. Lanfranco et al. 2022), ist es deshalb unabdingbar, selbst in die Welt zu gehen und mit eigenen Augen und Sinnen das Neue sehen zu lernen und sich seinen eigenen Talenten bewusst zu werden. Kindern im Kindergarten und der Grundschule wird durch die Geschichte des Tigers Samuel ein motivierendes Beispiel bereitgestellt.

Zu guter Letzt sollte noch über den Autoren gesagt werden, dass dieser Musiker und Künstler ist, der sich seit seiner Teenagerzeit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen engagiert. Als Teil der erfolgreichen christlichen, deutschen Band „normal generation?“ erreichte er als Sänger bei Live-, TV- und Radioauftritten ein Millionenpublikum und ist Vertretern meiner Generation noch von Auftritten auf dem Kirchentag, dem Grand Prix und TV Total bekannt. In seiner Karriere nach „normal generation?“ wurde Stefan Waidelich als Kinderbuchautor bereits mit den US-amerikanischen Pencraft Award und dem INTERNATIONAL IMPACT BOOK AWARD 2021 ausgezeichnet.


Stefan van der Hoek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl der Religionspädagogik und Geschäftsführer des Forschungszentrums für Religion und Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Er studierte Gemeindepädagogik und Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Bochum, der Alice-Salomon Hochschule in Berlin und an der Universidade da Amazoniâ in Belém do Pará in Brasilien.


Literatur:

Beelmann, Andreas & Heinemann, Kim Sarah (2014): Preventing prejudice and improving intergroup attitudes: A meta-analysis of child and adolescent training programs. Journal of Applied Developmental Psychology, 35(1), 10-24.

Boldaz-Hahn, Stefani (2022): „Weil ich dunkle Haut habe…“ – Rassismuserfahrungen im Kindergarten. In: Wagner, Petra (Hrsg.) Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder Verlag.

Cameron, Lindsey & Rutland, Adam (2006): Extended contact through story reading in school: Reducing children’s prejudice toward the disabled. Journal of Social Issues, 62(3), 469-488.

Lanfranco, Renzo C. et al. (2022): Towards a view from within: The contribution of Francisco Varela to the study of consciousness. In: Adaptive Behaviour. https://journals.sagepub.com/doi/epub/10.1177/10597123221080193

Naurath, Elisabeth (2020): Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule – Wagnis, Herausforderung und Ermutigung. In: Mokrosch, Reinhold; Naurath, Elisabeth; Wenger, Michèle (Hrsg.): Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 11-24.

Heinemann, Kim Sarah (2012): Wodurch wird die Vorurteilsentwicklung im Kindes- und Jugendalter beeinflusst? Eine Meta-Analyse zu individuellen und sozialen Einflussfaktoren. Dissertation. Jena: Friedrich-Schiller-Universität.

Schröder, Bernd (2022): Religion unterrichten. Praktische Theologie kompakt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wright, Stephen et al. (1997): The extended contact effect: Knowledge of cross-group friendships and prejudice. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 73-90.

Ein Beitrag von Stefan van der Hoek.

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