Veranstaltungsrückblick zu „(Religiöse) Bildung an den Rändern der Vielfalt. Soziale Benachteiligung, Religion, Geschlecht(lichkeiten)“

Vom „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“ in den 60ern zum „muslimischen Jungen mit Zuwanderungsgeschichte aus der Großstadt“ in den 00ern – Anhand dieser Kunstfiguren wurden und werden die Benachteiligungsstatistiken in Vergangenheit und Gegenwart zusammengefasst. Als Resultat aggregierter Daten erlauben diese Figuren keinerlei Aussage über den Einzelfall und verbergen geradezu die ihnen zugrundeliegenden Benachteiligungsstrukturen. Zugleich weisen sie jedoch darauf hin, dass Ungleichheits- und Inklusionssensibilität nur intersektional, sprich im vorliegenden Fall entlang der Heterogenitätsdimensionen „Religionszugehörigkeit“, „soziale Herkunft“ und „Geschlecht“, sowie kontextbezogen, sprich im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung des Kontextes „Land“ bzw. „Großstadt“ gedacht und „gemacht“ werden können. Die „Großstadt“ ist demnach inzwischen zum Schauplatz verräumlichter sozialer Ungleichheit geworden, in welchem gesellschaftliche Mitte und gesellschaftliche Ränder zunehmend auseinanderdriften.

Mit Fokus auf die Trias „Soziale Lage, Religion, Geschlecht“ fand im Wintersemester 2020/21 im Rahmen des Forschungsforums Gender die interdisziplinäre Vortragsreihe „(Religiöse) Bildung an den Rändern der Vielfalt. Soziale Benachteiligung, Religion, Geschlecht(lichkeiten)“ an der Universität Duisburg-Essen statt. Organisiert wurde sie als digitale Veranstaltung von der Arbeitsstelle interreligiöses Lernen in Zusammenarbeit (AiL) mit dem Essener Kolleg für Geschlechterforschung (EKfG).

Wie der Titel anzeigt, ging die Vortragsreihe thematisch an die „gesellschaftlichen Ränder“, an welchen aufgrund von Prozessen struktureller Diskriminierung und sozialer Segregation eine „prekarisierte Vielfalt“ aus migrationsbedingter religiöser und kultureller Heterogenität unter den Bedingungen sozialräumlicher Deprivation anzutreffen ist. Im Rahmen von 9 Vorträgen sollte reflektiert werden, was dieses Setting sozialer Benachteiligung im Zusammenspiel mit Geschlecht und Religion für (religiöse) Bildung bedeutet. Viele Fragen drängten sich hierbei in der Vorbereitung auf und wurden in die Ankündigung zur Vortragsreihe übernommen: „Welche Formen sozialer Benachteiligung gibt es und wie hängen diese mit der sozialen Lage zusammen? Mit welchen geschlechts- und religionsbezogenen Vorstellungen, Selbstverständnissen und Zuschreibungen ist im Kontext sozialer Benachteiligung zu rechnen? Welche interaktiven Dynamiken lassen sich in diesem Zusammenhang beobachten und wie können diese theoretisch reflektiert werden? Was bedeutet (religiöse) Bildung aus der Sicht sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher? Und wie können Religionsunterricht und religiöse Bildung so verstanden und angelegt werden, dass sie geschlechtergerecht sind und die sozialen Hintergründe von Lernenden genauso berücksichtigen wie deren unterschiedliche religiöse Hintergründe?“.

Wissenschaftler*innen der Universität Duisburg-Essen sowie externe Referent*innen aus Bildungs- und Sozialforschung, Theologie und Religionspädagogik führten entlang dieser Fragen durch theoretische Grundlagen auf der einen Seite und durch eigene empirische Forschungen auf der anderen. Dabei bildeten sowohl etablierte Theorien der Ungleichheitsforschung, allen voran die Kapital- und Raumtheorie sowie die Theorie der sozialen und kulturellen Reproduktion von Pierre Bourdieu, als auch neuere Ansätze der Intersektionalitäts- und Antidiskriminierungsforschung, aber auch spezifischere Beiträge aus den migration, gender und queer studies die Grundlage der Betrachtungen. Die auf dieser Grundlage präsentierten empirischen Studien reichten von qualitativen Einblicken in die „Religiosität in der Lebenswelt sozial benachteiligter Jugendlicher“ (Dr. Dörthe Vieregge), über religions- und geschlechterdifferenzierte qualitative Einblicke in den erschwerten Bildungsaufstieg muslimischer Jungen (Prof. Dr. Ahmet Toprak), das Spannungsfeld doppelter sozialer Benachteiligung muslimischer Frauen (Prof. Dr. Fahimah Ulfat) und in die Islamfeindlichkeit nicht-muslimischer Jugendlicher als Gegenentwurf zu ihrer eigenen religiösen Sozialisation (Lamya Kaddor) bis hin zu einer quantitativen Untersuchung der sozialen Benachteiligung von Schüler*innen im Religionsunterricht entlang der Dimensionen Geschlecht und (Nicht-)Religiosität (Prof. Dr. Alexander Unser), der Analyse von Fallvignetten aus einem laufenden Forschungsprojekt kontextbezogener Religionsunterrichtsforschung (Prof. Dr. Thorsten Knauth/ Silke Reindl) und einer qualitativen Annäherung an die „Armutssensibilität“ von Lehrkräften im Religionsunterricht (Dr. Vera Uppenkamp). Besondere Ergänzungen stellten der globale Überblick zur sozialen Benachteiligung von Frauen (Prof. Dr. Monika Jakobs) und von queeren Menschen (Dr. Kerstin Söderblom) und deren Bearbeitung in Ansätzen befreiungstheologischer, feministischer und queerer Theologie dar.

In den an die einstündigen Vorträge anschließenden Diskussionsrunden wurde stets die Frage reflektiert, was sich aus den präsentierten Inhalten für eine inklusive Religionspädagogik der Vielfalt ableiten ließe. Dabei zeigte sich jenseits unterschiedlicher Religionsunterrichtsvorstellungen eine gemeinsame Tendenz: Eine inklusive Religionspädagogik der Vielfalt habe demnach die Kinder und Jugendlichen als „konkrete Andere“ zu verstehen und sich an deren Lebenswelt zu orientieren. Weiterhin müssten sich die Praktiker*innen einer solchen Religionspädagogik immer wieder selbst in ihren Privilegien und Vorurteilen reflektieren, um sich in ihren Wahrnehmungen von und in ihrem Umgang mit „sozial benachteiligten“ Kindern und Jugendlichen nicht voreilig von durch vermeintliches Kontextwissen informierten Fremdzuschreibungen, sondern vielmehr von den Selbstverständnissen der Kinder und Jugendlichen leiten zu lassen, und um überdies stets den Raum für unmittelbare Begegnung mit und unter den Kindern und Jugendlichen offenzuhalten.

In Anlehnung an das von Dr. Vera Uppenkamp in die Vortragsreihe eingebrachte Inklusionsmodell Mai-Anh Bogers, wonach inklusionspädagogische Ansätze immer im Spannungsfeld von Normalisierung, Dekonstruktion und Empowerment arbeiten (für eine weiterführende Darstellung siehe https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/413/317), blieb jedoch an vielen Stellen die Frage offen, inwiefern sich vor dem Hintergrund des häufig nach Normalisierung strebenden Selbstverständnisses der Kinder und Jugendlichen der dekonstruktive und transformative Anspruch einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt einlösen lasse. In anderen Worten: Braucht es die gesellschaftliche Normalisierung von Kindern und Jugendlichen entlang bestimmter Vielfaltskategorien, bevor diese Kategorien, die vormals zu ihrer Benachteiligung beigetragen haben, von ihnen bzw. gemeinsam mit ihnen transformiert oder gar dekonstruiert werden können?

Zusammengenommen stellte sich im Laufe der Vortragsreihe heraus, dass (religiöse) Bildung an den Rändern der Vielfalt dazu herausfordert, gewohnte Lesarten „der Mitte“ nicht nur im Blick auf Heilige Schriften, sondern gerade auch im Blick auf soziale und individuelle Realitäten immer wieder zu verlassen, um von den Rändern her die Vielfalt in ihrer Gänze erfassen zu können.

Eine Übersicht über die im Rahmen der Vortragsreihe gehaltenen Vorträge findet sich unter:

https://www.uni-due.de/ekfg/ekfg-ail-vortragsreihe_2020-2021.php

Die Vorträge werden voraussichtlich im Jahr 2022 im Rahmen eines Sammelbandes nebst weiteren Beiträgen veröffentlicht werden.

Die Autorin des Beitrags, Silke Reindl, ist im Rahmen des Graduiertenkollegs zu querschnittlichen Fragen der Lehrer*innenbildung sowie Schul- und Unterrichtsentwicklung wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle interreligiöses Lernen der Universität Duisburg-Essen und promoviert zur Rolle des Religionsunterrichts an Schulen in sozial benachteiligten Lagen.

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