Zehn inklusive Grundsätze – das Scharnier zur inklusiven Praxis?

Bereits 2014 lieferte das Comenius-Institut im Rahmen seiner Projektgruppe „Inklusive Religionslehrerbildung (inreb)“ zehn Grundsätze für inklusiven Religionsunterricht als Scharnier konzeptioneller Ansprüche und realisierbarer Praxis aus.  In der inklusiven Welt hat sich zwischenzeitlich viel bewegt. Dennoch ist die Bewegung rund um die Achse der zehn Grundsätze verstockt, wie es scheint. Justierung oder Wartung: Fehlanzeige – nach einem Diskurs, Rezensionen oder Feedback aus der Praxis sucht man 2020 lange. Warum eigentlich? Sollte es nicht Entwicklungsbedarf und sogar die explizite Aufforderung zum Diskurs darüber zur Genüge gegeben haben? Sind die Grundsätze als Leitlinien still und heimlich längst montiert? Kaum vorstellbar, auch im Hinblick auf die Digitalisierung. Zeit also, dieses ‚Scharnier‘ aus der Verpackung zu holen und zu betrachten: Muss es justiert werden, ist es aufzupolierende Dekoration oder kann man es gar als Prototyp agil einsetzen?

Lieferumfang

Im Lieferumfang der zehn Grundsätze für inklusiven Religionsunterricht enthalten sind:

– eine Kurzbeschreibung als Multifunktionstool: funktional verwendbar als Praxis-Theorie-Scharnier und als Diskussionspapier

– Zehn Grundsätze, die jeweils einer von drei Dimensionen (Kulturen – Strukturen – Praktiken) zugeordnet sind

– zwei Operationalisierungshinweise mit den Kategorien „Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass…“ und „Das erkennt man z.B. daran, dass im Unterricht, …“

Verpackung und Design

Die Verpackung des Grundsatzscharniers ist recycelt, was bekanntermaßen kein Geheimnis ist, denn für die zehn Grundsätze wurden Teile vom 2003 veröffentlichen Index für Inklusion, welcher als ‚Großscharnier‘ für Schulentwicklung dienen soll, verwendet.

Die Grundsätze sind in viele gleichwertige Verpackungsschichten („im inklusiven RU…“) eingewickelt, welche visuell nicht sehr attraktiv wirken. Ästhetisch ansprechender könnten visuell Mindmaps, Sketchnotes oder ähnliches als differenzierte Verpackung wirken.

Das Design als Scharnier ist hingegen begrüßenswert. Gerade was Inklusion und Diversitätsorientierung angeht, ist der Spalt zwischen Theorie und Praxis groß, wie sich auch am nachhaltigen Thema Bildungsgerechtigkeit immer wieder belegen lässt. Jedes Scharnier, dass diesen Spalt beweglich zusammenhält oder überhaupt zusammenbringt, ist ein Fortschritt.  Hierfür müsste die Scharnierachse derart komplex konstruiert sein, dass sie weit genug gefasst ist, um die Vielfältigkeiten des Lebens im Großen zu erfassen und konkret genug, dass eine heterogenitätssensible unterrichtliche Applikation im Kleinen möglich ist. Ein vergleichbares Praxis-Theorie-Design findet sich in der Gesetzgebung. Gesetzestexte müssen alle lebensweltlichen Variablen abstrakt-begrifflich enthalten, aber dennoch die konkrete Subsumtion von Einzelfällen ermöglichen.  Grundsätze als Scharniere haben ähnlich den Gesetzestexten eine Funktion, „[…] sie bezeichnen positiv allgemeine Richtlinien und markieren negativ Grenzen. Grundsätze sind situationsgerecht zu konkretisieren; deshalb sind in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Empfehlungen angezeigt“ [EKD 2003: Maße des Menschlichen, S. 60]. Die zehn inklusiven Grundsätze sind somit nicht starr zu verstehen, sondern verlangen agile kontextsensible, d.h. auch subjektbezogene Auslegung [vgl. ebd.]. Ob das Scharnier zur inklusive(re)n Praxis dergestalt fungieren kann, überdauert oder porös und wartungsintensiv wird, ist noch offen. Dies zeigt sich, wie auch im Rechtssystem, nicht ausschließlich im abstrakten Design, sondern erst in der Applikation im Einzelfall und mit der Fortschreibung durch die sich entwickelnde Inklusionspraxis.

Anwendung und Montage

  • realisierbare Praxis: wer montiert?

In der Rechtsprechung sind die Anwendung und Auslegung des abstrakten Wortlautes personal festgelegt. Zusätzlich stehen eine Vielzahl von Hilfen wie Gesetzeskommentare, welche gesetzliche Begrifflichkeiten in ihrer Polysemantik und ihrem Telos erörtern, für die konkrete Subsumtion zur Verfügung. Beim ‚Großscharnier‘ Index für Inklusion verteilt sich die Realisierung von Inklusion auf das Makrosystem Schule: in die Funktionalität sind viele, optimal alle Bildungsakteur*innen, einbezogen. Nicht explizit benannt ist hingegen, durch wen die unterrichtliche Applikation des Grundsatzschaniers erfolgt. Wahrscheinlich obliegt es hier der einzelnen Religionslehrkraft die zehn inklusiven Grundsätze zu montieren. Denn diese reflektiert im Fachunterricht der Religionslehre die didaktische-methodische Konzeptionen hinsichtlich Eignung für den eigenen Religionsunterricht, da nur sie den Bezug zu den konkret-individuellen Lernausgangslagen setzen kann und hierfür hoffentlich den in ihrer Ausbildung gut gerüsteten Werkzeugkoffer besitzt.

  • Montage

Die Montage der inklusiven Grundsätze könnte sich trotz Werkzeug dennoch als schwierig erweisen, denn durch die im Paket mitgelieferte Operationalisierung erhält die Lehrkraft neben dem Scharnier Auskunft darüber, dass das Scharnier funktioniert, wenn sich dies durch jenes zeigt und Indikatoren, wodurch dies geschehen kann [vgl. Operationalisierung]. Allerdings sind diese Beispiele nicht in Montageschritten erfasst, sondern dem abstrakten Ziel in Dimension und Grundsatznummer zugeteilt, sodass ein gebündelter Überblick über unterrichtliche Befestigungspunkte kaum möglich ist. Lehrkräfte müssten dazu entweder jeden Grundsatz einzeln installieren oder die Indikatoren unabhängig von Grundsätzen beispielsweise für die Stellschrauben Unterrichtsvorbereitung, den Unterricht selbst, oder den Lerngegenstand umstrukturieren. Auf diese Bereiche bezogen würde zugleich ersichtlich, wie z.B. das Unterrichtsklima als gemeinsamer Verantwortungsbereich ausgestaltet sein könnte. Für die Montage erfordert es somit mehr, als das Scharnier in Form von Ziel-Grundsätze her zu denken und mit Operationalisierungshinweise „Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass…“ und „Das erkennt man z.B. daran, dass im Unterricht, …“ auszustatten. Die Operationalisierung wäre nutzungsfreundlicher, wenn sie nicht nur reaktiv, sondern auch für die einzelnen Befestigungspunkte proaktiv nutzbar ausgestaltet wäre.

Ferner lassen sich zur Kompatibilität mit lokal eventuell bereits installierten Tools, wie zum Beispiel dem Classroom-Management, leider keinerlei Angaben machen. Möglicherweise wird dann versucht, das Scharnier an einer Stelle zu installieren, wo bereits anderweitige partielle Lösungen vorliegen, sodass kein ausreichender Platz da ist oder eine doppelte Befestigung erfolgt. Damit die Anwendung nicht bereits gängige Reflexionsprozesse dupliziert und das Scharnier auch als solches fungieren kann, wäre es daher wichtig, die Grundsätze besser mit bestehenden Unterrichtsprinzipien abgleichen zu können. Die aus dem Index für Inklusion entlehnten Dimensionen Kulturen, Strukturen und Praktiken und deren jeweilige Indikatoren erschweren es, Überschneidungen mit allgemeinpädagogischen Unterrichtsprinzipien, welche bereits Usus sind, festzustellen. Installationsschrauben oder vielmehr operationalisierbare Kategorien, welche mehr auf die unterrichtliche Dimension zugeschnitten sind (z.B. Lerninhalt, SuS, Lehrkraft oder Unterrichtsklima) wären aus dieser Perspektive gegenüber dem entlehnten Strategien-Kulturen-Praktiken-Design vorzuziehen.

  • Anwendung

Das Praxis-Theorie-Scharnier zeigt genau das Problem auf, dass es lösen soll: Als Diskussionspapier angedacht würde das Scharnier die Kluft zwischen Theorie und Praxis überbrücken, da es nicht nur deduktiv produziert, sondern zugleich induktiv bedürfnis- und subjektorientierter entwickelt werden könnte. Dieser konzeptionelle Anspruch ist jedoch (noch) nicht realisiert, wie es scheint. Liegt dies allein in den Montagebedingungen begründet? Die Anwendung wirkt durch die Montage wenig nutzungsfreundlich. Denn sowohl die konkrete Montage als auch die Anwendung verbleibt scheinbar im Verantwortungsbereich der Endnutzer*innen: den Religionslehrkräften und gegebenenfalls noch den Schülerinnen und Schülern. Dies scheint einerseits der geläufigen Theorie von Inklusion als Aufgabe aller zuwiderzulaufen und andererseits auch pragmatisch ein Hängepunkt des Scharniers zu sein. Nutzungszentriert betrachtet stellt die Anwendung nämlich das Gegenteil des Ziels dar: Wertschätzung von Vielfalt als Bereicherung für alle wird weniger installiert, denn als Mehraufwand für einzelne Religionslehrkräfte ausgestaltet. Die Überwindung der Praxis-Theorie-Kluft im Hinblick auf eine inklusivere Unterrichts- und Schulkultur wird dergestalt zur zusätzlichen Aufgabe von einzelnen Individuen.  Die Verhältnismäßigkeit der Montage und Anwendung zu einem möglichen Nutzen wirkt hierdurch unausgewogen. Die aufgewandten Ressourcen der Lehrkraft könnte effizienter wirken, wenn sie in konkrete Bindungs- und Beziehungsarbeit investiert werden. Wiederum ist dennoch die auszeichnende Einzigartigkeit des Scharniers zu berücksichtigen, denn es sind mehr als nur ökonomisch-funktionale Ressourcen der Lehrkräfte relevant und die Konstruktion an sich ist zu würdigen.

Nichtsdestotrotz könnten erleichternde Montagebedingungen und Nutzungszentrierung mittels einer Lösung vergleichbar mit Gesetzeskommentaren unterstützend sein und die Gefahr einer Verantwortungsdiffusion verringern. Mittels Open-Education-Ressources (OER) könnte beispielsweise die Verantwortung stärker verteilt und die Applikation weiter ausdifferenziert sowie Feedbackschleifen unterstützt werden.  Auch für die Wartung und Pflege des Scharniers wäre dies sicherlich von Nutzen. Fraglich ist etwa, ob die eine diversitätssensible Politur sprachlich aufgetragen werden sollte. Im Hinblick auf die Digitalisierung der Bildungslandschaften erweitern sich zudem Inklusionsprozesse und bedürfen der fortlaufenden Reflexion durch alle Beteiligten.

Fazit

Dem Tool der zehn inklusiven Grundsätze für den Religionsunterricht wohnt viel Potential inne. Von seiner theoretischen Ausgestaltung her ist es sehr vielversprechend. Noch ist nicht absehbar, wie sich eine erhöhte Nutzungsfreundlichkeit durch einen erweiterten Montagesatz oder eine Politur auswirkt. Möglicherweise ist das Potential des Grundsatzscharniers von 2014 noch viel weiter entfaltbar. Wünschenswert wäre beispielsweise, wenn unter diesen Aspekten das Scharnier den Spalt zwischen Theorie und Praxis nicht nur überbrückt, sondern tatsächlich zu Entwicklungsraum avancieren ließe. Denn dort, wo Leerraum ist, ist auch freier Raum für Entwicklung und Begegnung. Die Funktion als Diskussionspapier könnte hier mit mehr Anknüpfpunkten die erste Basis bieten. Beispielsweise im Sinne der OER-Bewegung unter Bereitstellung reformulierter Grundsätze als Entwicklungsressource. Derartiges Prototyping erfordert Kommentare, Diskurse und eine partitive Weiterentwicklung aller und kann nicht nur der Applikation und dem Fazit einzelner Religionslehrkräfte basieren und zum Mehraufwand für diese avancieren. Das Potential ist da, um die Bildung von Scharnieren zu einer inklusiveren Praxis als prozesshafte Bereicherung erfahrbar zu machen und somit nicht nur inhaltlich, sondern auch im iterativen Prozess zur Wertschätzung von Vielfalt beizutragen.

Judith Petzke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Würzburg am Lehrstuhl II Religionspädagogik und Lehrerin an einem sonderpädagogischen Förderzentrum. Mehr gibt es hier in unseren 11 Fragen an Judith Petzke.

Beitragsbild von Lordspudz unter CC BY-NC-ND 2.0: https://flic.kr/p/7ah9w3

Ein Beitrag von Judith Petzke.

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