Ambiguitätstoleranz im Kontext inklusiver Religionspädagogik

Zehn Jahre liegt die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die deutsche Bundesregierung nun zurück. Davon ausgehend hat der Inklusionsbegriff in allgemein- und religionspädagogischen Fachdebatten vermehrt Einzug gehalten, wobei an vielen Stellen deutlich wurde, dass sich der Inklusionsbegriff mit normativen Vorstellungen einer idealen Gesellschaft verbindet (vgl. Grüber 2010: 55). Auch in der 2014 veröffentlichten Orientierungshilfe der EKD zu Inklusion in kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten steht der Begriff für einen „grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung“ (EKD 2014: 11).

Gleichzeitig geht die fachwissenschaftliche Debatte innerhalb der Religionspädagogik von einem erweiterten Inklusionsverständnis aus, das über das Differenzkriterium der Behinderung hinausgeht und auch andere Differenz- bzw. Heterogenitätsdimensionen einbezieht:

Inklusion betrifft das Kriterium Behinderung, aber eben auch die Kriterien Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Herkunft sowie Armut. Unter dem Stichwort Intersektionalität hat sich zudem bereits eine sozialwissenschaftliche Debatte etabliert, die die Verstärkungsmechanismen von Doppeldiskriminierungen reflektiert.“ (Nord 2016: 1168)

Zu den gesellschaftlichen, kirchlichen und religionspädagogischen Aufgaben gehört daher die Förderung heterogenitätssensibler Kompetenzen, die sich vor allem dadurch auszeichnet, „festgelegte Muster der Wahrnehmung zu reflektieren und zu durchbrechen und vielfältige Handlungsoptionen anzubieten“ (EKD 2014: 64). Eine solche Kompetenzbeschreibung rückt auch ins Bewusstsein, dass Mensch-Sein durch Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Unentscheidbarkeit und Vagheit geprägt ist:

„Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.“ (Bauer 2018: 12)

Für die Religionspädagogik bedeutet das, sich die reflektierte Bearbeitung von Diversität, Mehrdeutigkeit und Ambiguität in religiösen Bildungsprozessen zur Aufgabe zu machen. Die Förderung von Ambiguitätstoleranz wird zu einem entscheidenden Ziel religionspädagogischer Arbeit (vgl. Kammeyer 2015: 225).Für den evangelischen Theologen Michael Klessmann zeichnet sich Ambiguitätstoleranz durch die Fähigkeit aus, Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit und Multiperspektivität wahrzunehmen und auszuhalten, sie zu suchen, zu generieren, wertzuschätzen und mit der unweigerlich vorhandenen Ambiguität der Welt kreativ umzugehen (vgl. Klessmann 2018: 48).

Folgt man den Ausführungen des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer  stehen dieser Haltung allerdings die Grundtendenzen der postmodernen westlichen Gesellschaft entgegen, was er v.a. auf den Kapitalismus und sein auf Eindeutigkeit ausgerichtetes Wesen zurückführt:

„Jeder Ware und jedem Menschen (der dafür ebenfalls Warencharakter annehmen muss) kann über die Mechanismen des Marktes ein exakter Wert zugemessen werden, der in einer exakten Zahl ausgedrückt werden kann und damit jedes Nachdenken über Wert und Werte beendet.“ (Bauer 2018: 20)

Auch Michael Klessmann erkennt in der Bürokratisierung, der Technisierung und Digitalisierung der Gegenwart gesellschaftliche Tendenzen zur Auflösung und Vermeidung von Ambiguität (vgl. Klessmann 2018: 37). Für Bauer spiegelt sich zunehmende Ambiguitätsintoleranz daneben auch in religiösen Kontexten, indem einerseits Formen traditioneller Religiosität an Bedeutung und Zustimmung verlieren, gleichzeitig aber eine Zunahme an fundamentalistischen oder politisierenden Formen von Religion sowie eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber Religion feststellbar sind (vgl. Bauer 2018: 33). In diesen Tendenzen zeigt sich für Bauer das Streben nach klaren Positionen und der Wunsch, Widersprüchlichkeiten aufzulösen, was sich unter dem Begriff der „Ambiguitätsintoleranz“ zusammenfassen lässt. Diese ist demnach durch die Unfähigkeit oder die fehlende Bereitschaft geprägt, Mehrdeutigkeiten oder Widersprüchlichkeiten auszuhalten. Vielstimmigkeit wird bedrohlich empfunden und abgewertet (vgl. Klessmann 2018: 48).

Da Religion erlebte Realität transzendiert und auf eine über den Bereich dieser Wahrnehmbarkeit hinausgehende und diese übersteigende Instanz, auf das Unbedingte bzw. Gott bezieht, betritt sie unweigerlich einen Korridor der Ambiguität, der von Vagheit und Mehrdeutigkeiten geprägt ist:

„Religion beruht auf dem Glauben an etwas, das über das rational Erkennbare hinausgeht, im Wortsinne es überschreitet bzw. transzendiert, den Glauben also an etwas, das größer und anders ist als wir.“ (Bauer 2018: 34)

Gleichzeitig liegt in diesem Bezug auf das Unbedingte und in der theologischen Ausdeutung von Wirklichkeit auch eine Tendenz zur Vereindeutigung, die ein Ausdruck dessen sind, „dass die Orientierungsleistungen der Religion nicht die Leichtigkeit von Optionen haben, die man genauso gut auch anders denken könnte“ (Moxter 2002: 55). Der Monotheismus als zentraler Glaubensbezugspunkt von Judentum, Christentum und Islam, macht dies besonders deutlich (vgl. ebd.: 55f.). Für Michael Moxter ist Religion daher gleichzeitig durch Bestimmtheit und Offenheit geprägt, die sich komplementär aufeinander beziehen: Durch Glaubensüberzeugungen einer Religionsgemeinschaft, die in sich wiederum ambig sind oder sein können, und durch eine dialogische Grundausrichtung, die einen weiteren Kontext öffnet als den der eigenen Überzeugungen (vgl. ebd.: 53f.).

Auch der Umgang mit religiösen Texten erfordert Ambiguitätstoleranz, die sich der Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit der Überlieferung bewusst ist, da diese komplexen literarischen Werke „ein besonders hohes Maß an Ambiguität auf[weisen]“ (Bauer 2018: 25). Ihre Symbolik und Metaphorik wird zum mehrdimensionalen Spiegel vielfältiger und vielschichtiger menschlicher Erfahrungen – jenseits der Eindeutigkeit. Biblische Texte und religiöse Motive implizieren Ambiguität. Ihre Bearbeitung in religiösen Bildungskontexten setzt daher die Offenheit der Lehrkraft für unterschiedliche Deutungen und Verstehensmöglichkeiten dieser Überlieferungen voraus, ohne sie damit der Beliebigkeit preiszugeben. Vielmehr gilt es, den Schüler*innen Deutungskorridore zu eröffnen, die Raum für lebensweltbezogene Interpretationen biblischer Texte und religiöser Motive ermöglichen. Bibliodramatische und kindertheologische Methoden können dazu Anregung bieten und die Möglichkeit, den Wert unterschiedlicher Sichtweisen gemeinsam mit den Schüler*innen herauszuarbeiten. Die dabei entstehende Vielstimmigkeit, die mitunter spannungsvoll und widersprüchlich ist, kann bereichern, indem sie nicht nur neue Perspektiven öffnet, sondern auch eigene Normalitätsvorstellungen und eingefahrene Deutungsmuster hinterfragt. Als gemeinsamer Bezugspunkt sind die unterschiedlichen Interpretationen und Perspektiven auf einen inklusiven Anspruch zu beziehen, den Markus Schiefer Ferrari mit Blick auf den Umgang mit biblischen Heilungsgeschichten formuliert:

„Nur wenn wir biblische Geschichten so verstehen, dass unsere Auslegung behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichermaßen bereichert, verstehen wir sie auch für uns selbst richtig.“ (Schiefer Ferrari 2017: 74)

Gerade durch die Bearbeitung biblischer Texte und religiöser Motive, die in sich und aus sich heraus Mehrdeutigkeit beinhalten und anregen, trägt eine auf Ambiguitätstoleranz ausgerichtete inklusive Religionspädagogik dazu bei „das Widersprüchliche, das Vage, das Vieldeutige, das Nichtzuzuordnende, das Nichtklärbare als den Normalfall der menschlichen Existenz hinzunehmen, es mindestens zu achten, vielleicht sogar zu lieben“ (Bauer 2018: 79). Die Einübung eines wertschätzenden Umgangs mit Vielfalt, mit Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit stellt demnach ein zentrales Ziel der Bildungsarbeit im inklusiven Religionsunterricht dar, mit dem auch religiöse Inhalte neue Tiefe erfahren können.

Ein Beitrag von Patrick Grasser.

Patrick Grasser ist Diplom-Religionspädagoge und als Referent für Inklusion und heterogene Lerngruppen am Religionspädagogischen Zentrum Heilsbronn der Evang.-Luth. Kirche in Bayern tätig. Er ist Doktorand an der Universität Würzburg. In seiner Dissertation befasst er sich mit Praxisreflexionen von Religionslehrkräften in Inklusionsklassen.

Kontakt: grasser.rpz-heilsbronn@elkb.de

Literatur:

Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 2., durchgesehene Auflage, Ditzingen.

EKD (2014): Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft, Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh.

Grüber, Katrin (2010): Zusammen leben ohne Barrieren. Die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kommunen, Sankt Augustin/Berlin.

Kammeyer, Katharina (2015): Inklusive Wege des Umgangs mit Heterogenität im Religionsunterricht. Wahrnehmungen von Religionslehrerinnen und –lehrern, bildungstheoretische Reflexionen und Herausforderungen für das Studium, in: Ilona Nord (Hg.): Inklusion im Studium Evangelische Theologie, S. 197-225.

Klessmann, Michael (2018): Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart.

Moxter, Michael (2002): Wahrheit und Dialog. Eine christliche Perspektive, in: Wolfram Weiße (Hg.): Wahrheit und Dialog, S. 53-67.

Nord, Ilona (Hg.) (2015): Inklusion im Studium Evangelische Theologie. Grundlagen und Perspektiven mit einem Schwerpunkt im Bereich von Sinnesbehinderungen, Leipzig.

Nord, Ilona (2016): Inklusion als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik. In: Theologische Literaturzeitschrift 11/2016, Spalte 1167-1184.

Schiefer Ferrari, Markus (2017): Exklusive Angebote. Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern.

Weiße, Wolfram (Hg.) (2002): Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwärtiger Religionspädagogik, Münster.

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